Die Verwendung von Lerntagebüchern zur Förderung des selbstregulierten Lernens

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Kurzinfos_ZiLL_34-2015_Lerntagebuch
Aus der Reihe: Schriften zur Hochschuldidaktik. Beiträge und Empfehlungen des Fortbildungszentrums Hochschullehre der Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg.
Autoren: Riklef Rambow1, Matthias Nückles2, Sandra Hübner2 & Alexander Renkl2, 1Karlsruher Institut für Technologie, 2Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

Quellen

Rambow, R., & Nückles, M. (2002). Der Einsatz des Lerntagebuchs in der Hochschullehre. Das Hochschulwesen, 50(3), 113-120.
Hübner, S., Nückles, M., & Renkl, A. (2007). Lerntagebücher als Medium des selbstgesteuerten Lernens – wieviel instruktionale Unterstützung ist sinnvoll? Empirische Pädagogik, 21, 119-137.

Weiterführende Informationen

Großschedl, J. & Harms, U. (2013). Effekte metakognitiver Prompts auf den Wissenserwerb beim Concept Mapping und Notizen Erstellen. Zeitschrift für Didaktik der Naturwissenschaften, 19, 375-395.

Problembeschreibung / Zieldefinition

Von Studierenden und Universitätsabsolventen wird erwartet, dass sie sich eigenständig in neue Wissensgebiete einarbeiten können. Dazu sind Kompetenzen zum selbstregulierten Lernen erforderlich. Selbstreguliertes Lernen umfasst die eigenständige Auseinandersetzung mit dem Lernstoff, das Setzen eigener Lernziele und die selbstständige Überwachung des Lernprozesses. Da diese Prozesse von Studierenden jedoch selten eigenständig in vollem Umfang angewendet werden, sollten sie im Rahmen des Studiums gefördert und ihre Anwendung angeregt werden. In dieser Kurzinformation wird dargestellt, wie dies mit der Methode des Lerntagebuchs geschehen kann.
Lerntagebücher sind Protokolle, welche über eine gewisse Zeit hinweg von den Studierenden geführt werden. Sie dienen der langfristigen Kontrolle des eigenen Lernprozesses, etwa im Rahmen einer Vorlesung. Die Studierenden gliedern den gelernten Stoff darin eigenständig und verknüpfen ihn mit Vorwissen. Außerdem dokumentieren sie ihren Fortschritt, schreiben also auf, was sie gut verstanden haben und in welchen Bereichen sie noch Schwierigkeiten haben. Da viele Studierende nicht von sich aus ein Lerntagebuch führen, empfiehlt es sich, sie dazu anzuregen und das Führen von Lerntagebüchern professionell zu begleiten.

Herangehensweise / Lösungsansatz

Das Schreiben von Lerntagebüchern sollte vor allem dann eine lernförderliche Wirkung haben, wenn die Studierenden dabei zwei Arten von Strategien reflektieren: zum einen die intensive gedankliche Auseinandersetzung mit dem Lernstoff und zum anderen die Überwachung und Regulation des Lernprozesses. Was darunter verstanden wird, wird im Folgenden genauer erläutert.
Da in der Regel die Mehrheit der Studierenden noch nicht über Erfahrungen in der Arbeit mit Lerntagebüchern verfügt, ist es wichtig, sie dabei zunächst anzuleiten. Besonders bei unerfahrenen Studierenden genügt es hierzu nicht, lediglich den Nutzen dieser konkreten Methode sowie den von Lernstrategien im Allgemeinen darzustellen – vielmehr bietet sich zu ihrer Anregung die Verwendung von schriftlichen Leitfragen (sogenannte prompts) an. Diese Leitfragen sollen die Reflexion über eine Seminarsitzung strukturieren und die Anwendung der Lernstrategien anregen (z. B. durch die Frage „Welche Aspekte des Gelernten fand ich interessant, nützlich, überzeugend, und welche nicht? Warum?“).
Bei der Anwendung von Leitfragen hat sich erwiesen, dass der größte Lernzuwachs dann erzielt wird, wenn die Leitfragen alle Arten von Lernstrategien umfassen. Typische Leitfragen werden im Folgenden im Zusammenhang mit der Erläuterung der verschiedenen Lernstrategien vorgestellt.
Bei der ersten Gruppe von Strategien, die sich auf die intensive gedankliche Auseinandersetzung mit dem Lernstoff beziehen (sogenannte „kognitive Strategien“), lassen sich die Organisation des Lernstoffs und die vertiefende Ausarbeitung des Stoffs unterscheiden:
Organisation ist die Gliederung und Darstellung des Lernstoffes nach sinnvollen Kriterien, die ihn übersichtlicher und leichter verständlich machen. Darunter fällt z. B. das Unterstreichen von Textpassagen, die Erstellung einer Grafik aus dem Text oder das Zusammenfassen des Textes.
Eine typische Leitfrage lautet hier: „Wie kann ich die Struktur des Stoffes am besten gliedern?“
Vertiefende Ausarbeitung („Elaboration“) ist die Verknüpfung des Lernstoffs mit bereits bekannten Informationen, etwa durch das Aufstellen eigener Beispiele, das Umformulieren des Textes oder die Übertragung der gelernten Informationen auf andere Kontexte, wodurch eine tiefere Auseinandersetzung mit dem Lerninhalt stattfindet.
Eine typische Leitfrage lautet hier: „Welche Beispiele fallen mir ein, die das Gelernte illustrieren, bestätigen oder ihm widersprechen?“
Bei der zweiten Gruppe von Strategien, die sich auf die Überwachung und Regulation des Lernprozesses beziehen (sogenannte metakognitive Lernstrategien), wird der Lernprozess aus einer übergeordneten Perspektive von den Studierenden in den Blick genommen.
Als Überwachung bezeichnet man das kritische Beobachten des eigenen Lernens und die eigenständige Kontrolle, ob der zu lernende Stoff verstanden wurde, oder ob noch Verständnislücken bestehen, die geschlossen werden müssen.
Eine typische Leitfrage lautet hier: „Welche zentralen Inhalte habe ich noch nicht verstanden?“
Unter Regulation schließlich versteht man die Anpassung des eigenen Lernprozesses an die Anforderungen des Lernziels. Wenn im Zuge der Überwachung Lernschwierigkeiten entdeckt wurden, werden diese mithilfe von Regulationsstrategien geschlossen, z. B. indem ein schwieriger Text langsamer gelesen wird oder zum Verständnis des neuen Stoffs zusätzliche Informationen hinzugezogen werden.
Eine typische Leitfrage lautet hier: „Welche weiteren Möglichkeiten habe ich jetzt, um meine Verständnisschwierigkeiten zu klären?“
Die angeführten Lernstrategien werden häufig in einem zirkulären Modell der Strategieanwendung zusammengefasst, wie es in Abbildung 1 dargestellt ist. Dabei ist jedoch anzumerken, dass die Lernenden in der Praxis die Strategien häufig nicht streng voneinander getrennt und nacheinander anwenden, sondern diese sich auch überlappen können. Hinsichtlich der durch die Anwendung von Lernstrategien zu erwartenden Lerneffekte hat sich gezeigt, dass eine Kombination der Anwendung von kognitiven und metakognitiven Strategien häufig zu besseren Lern- und Behaltensleistungen führt. Der Einsatz metakognitiver Leitfragen ist dabei insbesondere beim Erlernen neuer Methoden und Strategien hilfreich und nimmt mit zunehmender Vertrautheit mit einer Methode ab (Großschedl & Harms, 2013).

Abbildung 1: Modell des selbstregulierten Lernens (vgl. Hübner et al., 2007, S. 123)
Mit einem optimalen Erfolg der Methode ist den Autoren zufolge bei der Vergabe von zwei kognitiven (Organisation + Elaboration) und vier metakognitiven Leitfragen (Überwachung + Selbstregulation) zu rechnen. Für den Lernerfolg ist es außerdem wichtig, dass die Studierenden nicht nur Leitfragen erhalten, sondern auch die Gelegenheit bekommen, ihre Verständnisschwierigkeiten gegebenenfalls zu beseitigen, wenn sie diese im Rahmen der Beantwortung der Leitfragen bemerken. Dies kann etwa durch das Bereitstellen von weiterführendem Lernmaterial geschehen.
Als praktikabel erscheint es, die Studierenden nach jeder Lehreinheit, in der Regel also nach jeder Seminarsitzung, einen Eintrag in Bezug auf die Leitfragen in ihr Lerntagebuch schreiben zu lassen, der vom Umfang her eine DIN A4 Seite nicht unterschreiten sollte. Im Verlauf eines Semesters sollten die Studierenden dazu angehalten werden, die Leitfragen nach und nach zu verinnerlichen. Dieser Prozess wird dadurch intensiviert, dass die Leitfragen nach und nach ausgeblendet werden (sogenanntes fading).
Zusätzlich zu den Leitfragen sollten die Studierenden auch Rückmeldung über ihre Lerntagebücher erhalten. Da das Lerntagebuch ein sehr persönliches Dokument darstellt, das den eigenen Denk- und Lernprozess sowie die eigenen Stärken und Schwächen widerspiegelt, ist Sensibilität beim Feedback geboten. Das Feedback könnte auch durch die gegenseitige Bewertung der Studierenden untereinander erfolgen (peer review), dies setzt eine vertrauensvolle Atmosphäre voraus. Dabei bewerten die Studierenden jeweils die Einträge eines/r Kommilitonen/in danach, wie gut die Leitfragen beantwortet wurden. Trotz peer review ist eine Lektüre der Lerntagebücher durch die Lehrenden und ein abschließendes Einzelgespräch zwischen Lehrenden und Studierenden sinnvoll, damit die Studierenden eine professionelle Bewertung erhalten und sich in ihrem Lernfortschritt gewürdigt fühlen.

Aufwand

Je nachdem, wie erfahren die Studierenden bereits mit der Methode des Lerntagebuchs sind, müssen die Lehrenden einmalig eine mehr oder weniger ausführliche Anleitung dazu verfassen und diese den Studierenden einmal vorstellen. Der hauptsächliche Aufwand ergibt sich für die Lehrenden jedoch aus der Lektüre der Lerntagebücher am Ende des Semesters – pro Studierender bzw. Studierendem müssen die Lehrenden etwa 10 bis 20 Seiten lesen und bewerten. Ein weiterer zeitlicher Mehraufwand entsteht durch das Führen der abschließenden Einzelgespräche, die mit etwa 30 bis 60 Minuten pro Studierender bzw. Studierendem zu Buche schlagen.
Die Methode des Lerntagebuchs stellt insbesondere für die Studierenden einen nicht unerheblichen Mehraufwand von 1 bis 1,5 Stunden pro Tagebuch-Eintrag dar, wobei die Bewertung von Einträgen eines Lernpartners noch einmal mit 0,5 bis 1 Stunde angesetzt werden muss. Dies gilt es bei der Berechnung des Workloads für eine Lehrveranstaltung zu berücksichtigen.

Art der Evaluation, Erfolgsfaktoren und Resultate

Studierende dokumentieren dann die meisten selbstregulierten Lernaktivitäten im Lerntagebuch und erzielen in einem nachfolgenden Verstehenstest dann die besten Ergebnisse, wenn sie beim Führen ihres Lerntagebuchs Leitfragen zu allen in Abbildung 1 dargestellten Teilaspekten selbstregulierten Lernens erhalten (Berthold, Nückles & Renkl 2007, zitiert nach Hübner et al., 2007).
Allerdings zeigte sich auch, dass die langfristige Vergabe von Leitfragen über ein gesamtes Semester hinweg dazu führen kann, dass die Motivation zum Verfassen des Lerntagebuchs sinkt und die Lernergebnisse am Ende des Semesters schlechter ausfallen als in einer Vergleichsgruppe ohne Leitfragen (Nückles et al., 2004; zitiert nach Hübner et al., 2007). Leitfragen helfen demnach vor allem zu Beginn der Lehrveranstaltung dabei, die Strategieanwendung anzuregen, und weisen langfristig eher einen hemmenden und störenden Einfluss auf. Leitfragen sind also zu Beginn der Arbeit mit dem Lerntagebuch ein effektives Mittel zur Strategieanregung, sie sollten jedoch schrittweise individuell ausgeblendet werden, wenn die Studierenden die erwünschten Lernstrategien selbstständig zeigen.

Empfehlungen

Der Einsatz eines Lerntagebuchs ist eine für alle Studienfächer vielversprechende didaktische Methode zur Anregung selbstregulierten Lernens. Dabei empfiehlt es sich, Studierende, welche noch keine Erfahrung mit der Methode des Lerntagebuchs hatten, in ihrer Strategieanwendung mit der Vergabe von kognitiven und metakognitiven Leitfragen zu unterstützen. Sobald die Studierenden diese Strategien selbstständig anwenden, sollten die Leitfragen schrittweise ausgeblendet werden.

Verallgemeinerbarkeit

Die Methode des Lerntagebuchs unterliegt keinen fachlichen Beschränkungen. Sie bietet sich überall dort an, wo die vertiefte eigenständige Auseinandersetzung der Studierenden mit den Inhalten einer Lehrveranstaltung im Vordergrund steht. Mehrfachen Nutzen verspricht die Methode in bildungswissenschaftlichen Studiengängen, da die Förderung von Lehr-Lernprozessen hier nicht nur als Methode zur Erreichung des Studienerfolgs interessant ist, sondern zugleich einen Gegenstand des Studiums darstellt. Bei der späteren berufsbegleitenden Weiterbildung ist es dann für alle AbsolventInnen gleichermaßen von Nutzen, den eigenen Lernprozess kompetent gestalten und überwachen zu können.