Wolfgang Neuser: Wissen begreifen. Zur Selbstorganisation von Erfahrung, Handlung und Begriff.

Rezensent: Dr. Dirk Jahn
Quelle: Wilbers, K. (Hrsg.): Handbuch E-Learning. www.personalwirtschaft.de/elearning
Originalliteratur: Neuser, Wolfgang: Wissen begreifen. Zur Selbstorganisation von Erfahrung, Handlung und Begriff. Wiesbaden (Springer VS) 2013, ISBN 978-3658007560, 331 Seiten, EUR 29,99.
Informationstechnologien bestimmen heute den praktischen Umgang mit Wissen. Wissen kann jederzeit und überall abgerufen werden. Jeder kann daran partizipieren und persönliches Wissen einbringen. Die Rede von der „Wissensgesellschaft“ ist allgegenwärtig, der Wissensbegriff selbst jedoch bleibt oft unreflektiert. Was ist eigentlich „Wissen“ und wie entsteht es? Welchen Einfluss haben Informationstechnologien auf unser Verstehen von „Wissen“ und auf dessen Organisation? Gibt es einen kontinuierlichen Wissensfortschritt oder ist es möglich, dass dadurch, wie wir Wissen verstehen und organisieren, auch Dinge verlernt oder gar nicht erst „gewusst“ werden?
Wolfgang Neuser, Professor für Philosophie an der TU Kaiserslautern, beschäftigt sich in seinem neuen Buch mit dem Wissensbegriff und dessen Entwicklung. Anhand von sozialhistorischen und erkenntnistheoretischen Analysen der Bedeutung des Wissensbegriffs stellt der Autor eine moderne Theorie der Wissensbildung und -legitimierung auf. Er betrachtet dabei auch, wie sich die Informationstechnologie auf Wissen und die Einlösung von Geltungsansprüchen auswirkt. Als Zielgruppe für das Buch werden unter anderem Soziologen und Informatiker angeführt. Es ist aber auch Lehrenden und allen weiteren „Wissensarbeitern“ zu empfehlen, die Freude an erkenntnistheoretischen Fragen haben.
In einem ersten Schritt ordnet der Autor die gegenwärtige Wissensgesellschaft in die Entwicklung der westlichen Kultur ein und erklärt die Dynamik und die Mechanismen von Wissenssystemen. Er zeigt dabei, wie Wissen in verschiedenen Epochen konstituiert wurde, wie Paradigmenwechsel entstanden sind und wie sich diese jeweils auf den Wissensbegriff ausgewirkt haben. Deutlich wird bei dieser Untersuchung, dass der Wissensbegriff verknüpft ist mit den Weltdeutungen und Rationalitätskriterien einer Epoche, sich somit als kulturell und historisch variabel erweist. Ändert sich das Wissen bzw. das Wissen über Wissen, so ändert sich der Blick auf die Welt und damit die Welt selbst.
Dass Informationstechnologien dabei mehr als nur „Medien“, sprich Vermittler von Wissen sind, sondern so tief in unsere Wissenspraxis eingreifen, dass sie unser Gesamtverständnis von dem, was „Wissen“ genannt wird, nachhaltig prägen, wird von Neuser facettenreich dargestellt. In der modernen Wissensgesellschaft, so die zentrale These des Autors, ist Wissen ein durch Informationstechnologie gestütztes,  sich selbst organisierendes und stabilisierendes System.
Das denkende Subjekt spielt dabei als Wissensbegründer kaum mehr eine Rolle: Wissen ist als eine komplexe Verknüpfung, ein Zusammenspiel von Begriffen, Erfahrungen und Handlungen zu verstehen: Durch Begriffe werden Erfahrungen erklärt. Sie sind aber auch die Instrumente, um Planbarkeit bei zukünftigem Handeln herzustellen, d. h. ein gelingendes Handeln wahrscheinlicher zu machen. Begriffe schaffen Handlungsoptionen. Durch geteilte Erfahrungen und Handlungen wiederum werden Begriffe ausgebildet und differenziert – das Wissen einer Tradition dadurch vermehrt. Das Individuum greift dabei immer auf bestehende Begriffe des Allgemeinwissens zurück, um Erfahrungen deuten zu können.
Wissen entsteht aber nicht gleich, wenn neue Erfahrungen mit Begriffen ausgedeutet werden. Es muss historisch sich wandelnden Gütekriterien entsprechen und – noch wichtiger – in die Le­benswirklichkeit der Erfahrungsgemeinschaft durch Handlungen aufgenommen werden, indem es „objektiviert“ wird (z. B. pädagogisches Wissen in Web-based-Trainings). Ändern sich wiederum Begriffe und Begriffsgefüge, so kann dies mit einem tiefgreifenden Wandel der Tradition und Kultur einhergehen. In einem letzten Schritt befasst sich der Autor deshalb auch mit den Auswirkungen des Zusammentreffens von Kulturen auf das Konzept des Wissens.
Der Autor verbindet auf aufschlussreiche Weise erkenntnistheoretische mit sozialhistorischen Untersuchungen des Wissensbegriffs. Die anspruchsvolle Sprache und die gehaltvollen Inhalte erschweren bei der Lektüre gelegentlich den Lesefluss bzw. sind manche der Argumente erst einmal schwer nachzuvollziehen. Die Lektüre ist dennoch sehr hilfreich dabei, einen klaren Standpunkt bezüglich des Wissensbegriffs zu erlangen. Für erkenntnistheoretisch Interessierte kann das eine bereichernde und wichtige Angelegenheit sein. Eilige Leser aber, die nach etwas Handfestem für die Praxis suchen, sei eher von dem Buch abgeraten.